Alles ist ein Bild
Art Brut trifft zeitgenössische Kunst
Als im Frühjahr 2013 die ersten Pressemitteilungen und Interviews zur kommenden 55. Biennale1 in den Medien auftauchten, war man schon gespannt: der Titel sollte auf einen „Outsider“-Künstler verweisen, einen eigenwilligen und in der Kunstwelt gänzlich unbekannten Autodidakten, der die Idee eines Bauwerkes entworfen hatte, in dem sämtliches Wissen der Welt versammelt und gespeichert sein sollte. Der italienisch-amerikanische Arbeiter Marino Auriti wurde zu seinen Lebzeiten nicht als „Künstler“ bezeichnet, er selbst kämpfte für die Realisierung seiner Idee wie ein Architekt um Finanzierung und Bewilligungen für seinen Entwurf ringt, wohl ahnend, dass sein Gedankenkonzept zu groß und zu fremd sei, als dass es irgendwo einzuordnen und realistisch zu handhaben wäre. Das Patent für den „Enzyklopädischen Palast“2 errang er 1955, an die Umsetzung seiner pyramidalen Megaarchitketur war aber nicht zu denken – diese blieb reine Imagination. Sie stellt so etwas wie „Das Andere der Vernunft“3 dar und positioniert sich in der Tradition der Rezeption von „anti-aufklärerischen“ Kunsterzeugnissen, auch wenn wir – gleichsam in der entmaterialisierten Erscheinungsform – heute gerade unermüdlich damit beschäftigt sind, das gesamte Weltwissen der Menschheit im Datennetz verfügbar zu machen.
Auritis Modell – und auf der Biennale von 2013 hatte der sensible und kundige Direktor Massimiliano Gioni zahlreiche ähnlich gelagerte Beispiele versammelt – ist lesbar und erfahrbar als der verlorene Traum eines Fantasten, als die Fortsetzung der enzyklopädischen Bestrebungen von d‘Alembert und Diderot, als utopisches Architekturkonzept, als widerständiges Projekt gegen den Mainstream der 1950er-Jahr-Kunst wie Pop Art oder Land Art, als verkleinerte Vision einer globalen Denkübung, die heute eingelöst wird, als Spleen eines Autisten, als inspirierendes Beispiel kreativen Wagemuts; viele Wege der Annäherung sind möglich, keine Lesart ist allein gültig. Und sollte das Bauwerk nicht auch als Beweis für die Verfasstheit des Autors dienen, gleichsam als Indiz für sein Denken, seine Weltsicht, seinen Zustand?
Nicht das eindimensionale Bildersehen ist das Mittel der Wahl zur Erfahrbarkeit dieser Zusammenstellung, sondern das Wissen um die Vielschichtigkeit von Bildwelten und das Vertrauen in das Vermögen der Fantasie. In diesem Kontext sind die Zeugnisse und Werke von sogenannten „Outsider-Künstlern“ nicht Dekor, sondern essenzieller Bestandteil des Erfahrungshorizonts.
Gioni verlangte vom Besucher der Ausstellung „Der Enzyklopädische Palast“ ein vorurteilsfreies Streunen durch alle Zimmer und Kabinette seiner Gedankenarchitektur. Geführt allein von dem Glauben an die Macht der Imagination ergab sich die Möglichkeit, jenseits von Bildstereotypen und präformierenden Vorstellungen ein anderes Sehen anzuwenden und die Mehrdeutigkeit von Bildern zuzulassen.
Das Aufeinandertreffen von zeitgenössischer Kunst und Zeugnissen von „Art Brut“ (im weitesten Sinn) eröffnet eine Art „Sehnsuchtsfeld“, in dem nachvollziehbar wird, was das Faszinosum von unwillentlichen, unorthodoxen und nicht kanonisierten Äußerungen für den suchenden Rezipienten ausmacht. Im Bereich der bildenden Kunst finden sich die stringentesten, wenn auch nicht die einzigen Beispiele, für diese andere Art der Wahrnehmung, das „Anderssehen“4, ein Sehen, als sähe man zu ersten Mal: vorurteilsfrei und bereit, sich in andere Welten mitnehmen zu lassen.
Seit Jean Dubuffet seinen Begriff der „Art Brut“ eingeführt hat, herrscht ein ständiges Ringen, Verwerfen und Neudefinieren von Begrifflichkeiten, um der Art von Erfahrung auf die Spur zu kommen, die von Kunstäußerungen nicht akademischer, nicht kunstkonformer Autoren und Autorinnen ausgeht. Das erwähnte „Sehnsuchtsfeld“, in dem sich „Das Andere der Vernunft“ ansiedelt und ausbreitet, ist schwer zu vermessen und schon gar nicht zu definieren. So wie in einer rationalen Kunstrezeption der Verstand, die Möglichkeit des bewussten Vergleichs und das Aufspüren von konzeptuellen Strukturen im Vordergrund stehen, so ist hier genau das Gegenteil der Fall: der Betrachter will nicht verstehen, sondern spüren. Mit Bildwerken, in denen die „unwillkürliche“ Einbildungskraft5 wirksam ist, erreicht der Betrachter die Möglichkeit, diese Bilder auf sich selbst beziehen zu können, sich selbst als von Bildern in Besitz genommen zu erfahren6. Und es trägt zur gesuchten, angestrebten Erweiterung des Erfahrungshorizonts bei, dass es sich um kontingente Bilder handelt.
Die keramischen Ungeheuer des japanischen autistischen Künstlers Shinichi Sawada7 sind somit ein erstaunliches dreidimesionales Bestiarium, sie sind ein Tiergarten der imaginierten Wesen, eine Versteinerung von fiebrigen Alpträumen, die Drachen und Echsen, Kopffüßler und Maskenwesen sind leibhaftige Dämonen aus einer privaten Mythologie – sie verweisen wie die Bestiarien in mittelalterlichen Handschriften auf die diesseitige Form jenseitiger Visionen. Und sie sind als fetischartige Schutzgeister wahrnehmbar, als Entsprungene aus einer diabolischen Comic-Welt, als bildhafte Manifestationen jenseits von Kalkül, ästhetischem Mainstream oder akademischen Gestaltkriterien. Ihnen begegnet derjenige vielleicht am adäquatesten, der sich von der Vieldeutigkeit der Werke bereichern lässt und der nicht nach rationalem Erkenntnisgewinn strebt.
Das Lesen solcher Kunstwerke entzieht sich rationalen Bildentschlüsselungsstrategien und rührt an andere Erfahrungsbereiche: nicht das Verstehen und Einordnen (historische, stilistische, geographische Zuordnung), das Kategorisieren (Personal-, Regionalstil) oder das Interpretieren nach ikonologischen und ikonographischen Kriterien finden hier Anwendung, sondern das Erspüren und Erahnen von Zeugnissen aus inneren, kontingenten Welten.
„Wenn das Verstehen irritiert ist, die Erwartung unterbrochen, erscheinen die Dinge anders als gewöhnlich“8, und dieses Andere der wahrnehmbaren Dinge beschreibt ihre Kontingenz. Sie können dies sein, aber auch etwas anderes, sie leben vom Nicht-Einordenbaren ihrer schieren Existenz und sie verunsichern, aber bereichern auch den Betrachter, sie sind dazu angetan, „das konventionell Erwartbare zu entselbstverständlichen“9.
1 55. Esposizione Internazionale d‘ Arte, La Biennale di Venezia, Venedig, 2013, Direktor: Massimiliano Gioni
2 „Il Palazzo Enciclopedico“ war der Titel von Auritis Entwurf, der nur als Modell, das er in seiner Garage bastelte, existierte – dies war auch der Titel, den der Biennale-Direktor seiner Kunstschau gab.
3 Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt am Main, 1983
4 Eva Schürmann, Sehen als Praxis, Frankfurt am Main, 2008, S. 212
5 Der Begriff der Einbildungskraft bei Kant, siehe Böhme H. und Böhme G., vgl. Anm. 3, S. 233
6 „we ourselves are media, channeling images, or at times even finding ourselves possessed by images“, Massimiliano Gioni in: The Encyclopedic Palace, Short Guide, Venedig, 2013, S. 19
7 Vgl. Anm. 6, S. 157
8 Eva Schürmann, vgl. Anm. 4, S. 213
9 wie Eva Schürmann, vgl. Anm. 4, generell für das Sehen von Kunst feststellt.
Anmerkung zum Text:
Der Beitrag ist die von der Autorin gekürzte und bearbeitete Fassung des Textes „Alles ist ein Bild-Anmerkungen zur Kontingenz von Bildern“ in der Publikation „Sequenzen und Collaborations
Zeitgenössische Kunst trifft Art Brut“, Diakoniewerk Gallneukirchen, 2014
© Art Brut: Alles ist ein Bild – Anmerkungen zu einer originären Kontingenz von Bildern, in Sequenzen und Collaborations, Helmut Pum und Ferdinand Reisenbichler (Hg.), Gallneukirchen OÖ, 2014, S. 34 f.